Heinrich-von-Gagern-Gymnasium Frankfurt am Main

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Unser Zeitzeugengespräch mit Mimi und Colin Watts

Text:
Valerie Scheffner
Fotos:
Julia Mansmann
Noah Baierschmitt
Letzte Änderung:
18.06.2018
Verantwortliche/r:
Florian Kavermann

Unser Zeitzeugengespräch mit Mimi und Colin Watts

- Ein Bericht von Valerie Scheffner, Q2 –

„Ugh, for the first time, I feel myself what it means to be treated as an outcast.“
(Aus dem Tagebuch von Vera Hirsch)

Am siebten Mai 2018 waren wir glücklich, unsere langersehnten Gäste, Miriam und Colin Watts, bei uns in der Schule begrüßen zu dürfen. Miriam Watts (genannt Mimi, nach ihrer Tante, Lady Mimi Roland) wohnt heute in London. Colin, ihr nichtjüdischer Ehemann, begleitete sie. Für Frau Watts war es ganz neu, als ‚jüdische Zeitzeugin‘ eingeladen zu werden, denn sie hatte noch nie öffentlich über das Schicksal ihrer Familie gesprochen. Und nun also mit uns, der Klasse 9d und dem Q2-Kurs von Frau Obermöller. Das Gespräch fand auf Englisch statt, dennoch war es für uns gut verständlich, da Frau Watts mit Rücksicht auf uns langsam und deutlich sprach. Herr Watts blieb zurückhaltender, doch unterstützte er seine Frau bei Fragen.

Frau Watts erzählte vor allem über das Leben ihrer Mutter, Vera Felsenstein, geb. Hirsch, die 1910 in Frankfurt am Main geboren wurde und ihre Kindheit und Jugend im Westend, in der Oberlindau, verbrachte. Lange Zeit bekam sie nichts von der Diskriminierung der Juden in Frankfurt mit. Sie besuchte die Viktoriaschule (heute Bettinaschule), damals eine Mädchenschule, die sie mit guten und sehr guten Noten abschloss. So begann sie an der Frankfurter Uni in Bockenheim ein Medizinstudium, im Rahmen dessen sie auch in einem Privatkrankenhaus in Sachsenhausen arbeitete. Während ihrer Präsentation verknüpfte Mimi Watts das Leben ihrer Mutter immer wieder mit den politischen Veränderungen in Deutschland. So erzählte sie, dass nach der Machtübernahme Hitlers (30. Januar 1933) und nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes (23. März 1933) auch für Vera Hirsch schwere Zeiten begannen. Die Diskriminierungen wurden bedrohlicher: Ein enger Freund trat in die NSDAP ein und brach den Kontakt zu ihr ab. Am 1. April 1933, dem Tag, an dem die NSDAP den offiziellen Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte organisierte, wurde sie während der Arbeit im Krankenhaus von einer Patientin offen und ungeschützt als Jüdin angegriffen. Das wollte Vera Hirsch nicht hinnehmen. Noch im selben Jahr floh sie nach England. Ohne ihre Familie. Sie war 23 Jahre alt.
Ihre Eltern blieben vorerst in Frankfurt, weil sie Veras ältere Schwester, Gretel, nicht mitnehmen durften. Gretel litt nämlich seit ihrer Geburt an einer geistigen Behinderung. Die Eltern brachten sie im Kalmenhof in Idstein unter – im Vertrauen darauf, dass Gretel in diesem von Philantropen gegründeten Sanatorium für geistig behinderte Kinder und Jugendliche gut aufgehoben sei. Besuche durften die Kranken dort nicht empfangen, weil gesagt wurde, dass dies schlechte Auswirkungen auf die Gesundheit habe. Daraufhin flohen auch die Eltern Anfang 1934 nach England. Gretel sah ihre Eltern nie wieder, denn sie verstarb bereits ein Jahr später, im Mai 1935, im Kalmenhof. Mimi zeigte uns den Totenschein, der ihrer Tante eine Lungenentzündung bescheinigte. Im Internet erfährt man, dass im Kalmenhof ab 1933 die Anzahl der Patienten stark anstieg, und dass zugleich das Prinzip der „Überkonfessionalität“ aufgegeben wurde. In der Folge wurde die Anzahl von Patienten jüdischen Glaubens bis zum Jahr 1936 auf etwa 60 Prozent „reduziert“. Heute weiß man, dass der Kalmenhof in das NS-Euthanasie-Programm integriert war, und dass dort ab 1939 Tötungen von Patienten belegt sind. Wir fragen uns: Was passierte 1935 mit Gretel dort ? - Mimi sprach diese Frage uns gegenüber nicht aus.

Vera konnte in England nicht weiterstudieren. Mimi erzählte uns von ihren Anfangsschwierigkeiten, aber auch von den Menschen, die ihr halfen. Ihre ersten Eindrücke von London schrieb Vera so in ihr Tagebuch: „Hier ist es alles anders, die Menschen sehen fabelhaft aus, lachen und nehmen es leicht… Ich bin ein anderes Mädchen hier.“ Sie nahm eine Stelle beim Kaufhaus Marks & Spencers an und lernte ihren späteren Mann kennen. Auch Ernst Moritz Felsenstein (1899), aus einer jüdischen Familie in Leipzig, war aus Deutschland geflohen. Die beiden verbrachten den Zweiten Weltkrieg in London, bekamen zwei Kinder und erzogen Miriam und ihren Bruder ganz nach englischer Tradition.

Mimi, danke für ihre Offenheit!

Die Familie wollte ihre Kinder nicht mit den schrecklichen Erinnerungen aus Deutschland belasten. Deswegen brachten sie ihnen kein Deutsch bei und erzählten ihnen nichts vom ihrem Schicksal und der Flucht. Was Mimi und ihr Bruder heute wissen, wissen sie aus dem Tagebuch ihrer Mutter, das deutsch geschrieben ist.

Heute ist Miriam in der Lage, die Geschichte ihrer Mutter zu erzählen und die Orte der deutschen Vergangenheit ihrer Mutter zu besuchen. Wir Schüler sind froh, dass sie uns so offen ihre Familiengeschichte erzählt, und auf unsere Fragen so ehrlich und freundlich geantwortet hat. Auch darüber, dass ihr Bruder und sie sich die große Mühe gemacht haben, die vielen Fotos und Texte für uns zusammenzustellen, was es uns leichter machte, ihre Worte zu verstehen.

Obwohl das Thema so schwer und für sie wahrscheinlich ziemlich schmerzhaft ist, blieb Frau Watts, während sie über diese Dinge redete, ruhig, und ihr Humor an den passenden Stellen machte es für uns leichter. Gern hätten wir mehr über Veras Gefühle, und auch über Mimis Gedanken zu alldem gehört, doch war das am Ende nicht mehr möglich, weil die Doppelstunde schon vorbei war. Nach dem Zeitzeugengespräch konnten sich aber einige von uns noch weiter mit Mimi über alles unterhalten.

Ehemalige Frankfurter-7

Zum Schluss möchten wir uns herzlich bei Frau und Herrn Watts bedanken und ihnen versichern, dass es für uns spannend war, in ihre persönliche Geschichte eingeweiht und damit der Geschichte näher gekommen zu sein.


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