Heinrich-von-Gagern-Gymnasium Frankfurt am Main

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Lilo Günzler zu Besuch im HvGG (26. Juni 2014)

Text:
Iris Hofmann
Fotos:
Felix Gerbaldo
Iris Hofmann
Letzte Änderung:
11.10.2016
Verantwortliche/r:
Jonas Diemer

Lilo Günzler zu Besuch im HvGG (26. Juni 2014)

"Ich wollte doch nur dazugehören und glücklich sein!"

Liselotte (Lilo) Günzler wird als Tochter von Reche und Fritz Wessinger am 11. Januar 1933 in Frankfurt am Main geboren. Nur wenige Wochen später kommt es am 30. Januar 1933 zur sogenannten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten um Adolf Hitler.
Für die kleine Lilo wäre dies kein besonderes Ereignis, wenn ihre Mutter nicht Jüdin gewesen wäre.
Gebannt lauschen die Schülerinnen und Schüler der Q2-Kurse von Frau Kerfin und Frau Hofmann der Lebensgeschichte von Lilo Günzler.

Laut NS-Rassenideologie war Lilo als Tochter einer Jüdin und eines Ariers, „Mischling ersten Grades“ oder auch „Geltungsjude“. Sie durfte zunächst die Liebfrauenschule besuchen, eine normale Schule, wurde von Ausflügen, dem Besuch einer weiterführenden Schule – gerne hätte sie das Kaiser-Friedrichs-Gymnasium (das heutige HvGG) besucht - oder auch der Evakuierung ausgeschlossen. Dies hat sie nachhaltig geprägt, hatte sie doch immer alles versucht, um sich nicht zu unterscheiden und dazuzugehören.
Lilos Onkel, die Brüder ihrer Mutter, sahen die Veränderungen in der Politik kritisch und wanderten schon früh nach Amerika aus. Lilos Mutter hingegen fühlte sich als Frau eines sogenannten „Ariers“ und hochdekorierten Soldaten des Ersten Weltkrieges sicher und wollte Deutschland nicht verlassen.
Sie ließ sich und den Sohn Helmut (Jahrgang 1931) aus einer früheren Beziehung mit einem Juden im Dom taufen und lebte fortan katholisch. Auch Lilo wurde getauft und lernte mit Vorliebe Weihnachtslieder.
Die Familie wohnte zunächst im Haus der Bäckersfamilie Neubauer, mit denen eine innige Freundschaft entstand, die bis heute andauert. Besonders in schweren Zeiten erfuhr die Familie immer wieder Unterstützung.

Lilo war ein fröhliches Kind, dessen Kindheit am 10. November 1938 jedoch zu einem abrupten Ende kam: Auf dem Weg zum Kindergarten passierten sie und ihre Mutter die noch brennende jüdische Synagoge am Börneplatz. Menschen standen herum, doch keiner rief die Polizei oder Feuerwehr. Dass ihre Mutter zu weinen begann und mit ihr auf dem Arm wieder nach Hause rannte, hat Lilo nachhaltig erschüttert. Die Ausrufe herumstehender Männer „Juden verrecke“ verstand sie nicht: Sie wusste noch nicht, was ein Jude ist.
Fortan lebte die Familie immer vorsichtiger und versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Trotzdem mussten sie aus ihrer Mietwohnung ausziehen, da es Ariern nicht zuzumuten sei, mit Juden unter einem Dach zu leben. Sie zogen ins „Judenhaus“ im Rothschildhaus, in dem auch andere Ehepaare aus Mischehen lebten.
Die Repressionen wurden im Laufe der Zeit immer schlimmer: Helmut musste in ein jüdisches Waisenhaus und durfte nur an Sonntagen besucht werden. Durch den mutigen Einsatz des Vaters gelang es in letzter Minute, den Jungen vor dem „Transport“ zu retten, der mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich geendet hätte.
In der Zeit zwischen 1944 und 1945 er- und überlebt die Familie die massiven Luftangriffe auf Frankfurt, bei der auch ihre neue Unterkunft und alle Habseligkeiten bis auf zwei Koffer zerstört wurden.
Im März 1945 werden die letzten 300 Juden aus Frankfurt deportiert und über Lautsprecher verkündet „Frankfurt ist endlich Judenfrei“. Zu den Deportierten gehörten auch Lilos Mutter und ihr geliebter Bruder Helmut, der ihr versprach, wiederzukommen.
Lilo sieht bis heute, wie sich die Türen der Viehwagons schließen, mit einem Eisenhebel verschlossen werden und Mutter und Bruder dahinter einschließen. Lange Zeit konnte Lilo nicht mit dem Fahrstuhl fahren, da sie dieser zu sehr an die sich schließenden und nie wieder öffnenden Türen erinnerte.

Helmut und die Mutter hielten ihr Versprechen: Im Juni 1945 war die Familie endlich wieder vereint. Sie entschlossen gemeinsam, in Deutschland zu bleiben. Als Juden fühlen sie sich nicht, und bei einem Neuanfang in Israel wären sie auch wieder Fremde gewesen. Die Kinder Lilo und Helmut sind sich einig, dass ihre Heimat Frankfurt ist.

Lilo Günzler hat 60 Jahre geschwiegen. Weder mit ihren Eltern, noch ihrem Bruder Helmut, noch der 1945 geborenen Schwester hat sie über ihre Jugend gesprochen. Dafür, dass sie ihr Schweigen nun gebrochen hat und an Schulen, wie heute am Heinrich-von-Gagern-Gymnasium, über ihr bewegtes Leben berichtet, sind ihr alle Beteiligten sehr dankbar.
Ihre ganze Lebensgeschichte „Endlich Reden“ erhalten die Schülerinnen und Schüler in den kommenden Tagen.

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Auf Nachfragen gibt Frau Günzler zu, dass sie keinen Hass für die Menschen, die ihr Leben so negativ beeinflusst haben, empfinde. Frei von Wut sei sie hingegen nicht immer. Und sie sei sehr vorsichtig gegenüber der Generation gewesen, die potentiell Teil an der Ausgrenzung gehabt haben könnte.
Am Ende des Gesprächs schließt Lilo Günzler jedoch damit, dass sie ein erfülltes Leben gehabt habe.

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